Lorenz Estermann


EIKON, 201, Issue #68, Dieter Buchhart, PDF (german/english)














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TEXT:

LORENZ ESTERMANN
Die Erweiterung des Malerischen im Spiegel utopischer Architektur


Utopische architektonische Entwürfe faszinieren KunstliebhaberInnen seit dem Kugelhaus für einen Gärtner von Claude-Nicolas Ledoux und den Phantasielandschaften von Giovanni Battista Piranesi. Visionäre wie Buckminster Fuller, Friedrich Kiesler und Yona Friedman öffneten im 20. Jahrhundert mit ihren Ideen in Kunst, Kultur, Wissenschaft und Architektur neue Sichtweisen, Zugänge und Denkmöglichkeiten im architektonischen Lebensraum. Wenn auch die Realisierung vieler ihrer Modelle aus unterschiedlichsten Gründen nicht möglich war oder gar nicht im Fokus stand, prägten sie dennoch den Diskurs über das Mögliche und umsetzbar Scheinende und gaben Ausblick auf neue Lebensformen und Bedingungen. Erst durch diese disziplinenübergreifenden Denkansätze wurde im Wechselspiel von Topos und Utopia der Blick auf neue urbane Zukunftsentwürfe und Praktiken ermöglicht.
Die Utopie als Ort des Austestens von Möglichkeiten hat auch Lorenz Estermann in seiner Werkserie ?Instant City? im Fokus. Dabei leitet er seine Modelle von real existierenden Architekturen ab, die er im Zuge seiner Recherchen im urbanen Umraum auf deren Sinnhaftigkeit und Funktionalität hin untersucht. Seine Analyseobjekte reichen von Plakatwänden, Wartehäuschen, Stromkästen, diversen Plattformen, Sommerhäusern, Schuppen, Busstationen bis hin zu Unterführungen. Dabei führen ihn seine Recherchen oft zu abgelegenen Orten an der Peripherie, Passagen und Leerstellen gleich Nicht-Orten, deren Menschenleere ihrer Funktion entgegenstehen. Estermann hält diese Architekturen in Fotografien fest, welche er in einem folgenden Arbeitsschritt überzeichnet und übermalt und zu dreidimensionalen Modellen weiterentwickelt. Seine Papierarbeiten lassen dabei in ihrem collagehaften Stil unter anderem an die Collagen von Franz West denken. Der Maler Estermann, der seit den 1990er Jahren mit abstrakten Kompositionen in der österreichischen Kunstszene Anerkennung findet, bleibt jedoch im Unterschied zu West in diesen Eingriffen stets deutlich spürbar. So bedeckt er Teile einer Hintergrundlandschaft mit einer Farbfläche, fügt scheinbar willkürliche, teils titelgebende Worte wie ?packet?, ?perkal?, ?please? oder ?reef? hinzu, deren Typografie zwischen selbstbemalten Schildern und Graffiti oszillieren. Die Papierarbeiten hinterlassen den Eindruck von spontanen Ideenskizzen, die der Künstler aus seiner Analyse architektonischer Gebilde heraus entwickelt. Der Gestus wirkt spontan, vom Impetus eines gestisch orientierten Malers geprägt, dessen Kunstwollen vom Überformen und Neuschaffen von Formen bestimmt wird. Von der konzeptuellen Strenge von Lois Weinbergers Einfriedungen, Wegwarten und Busstationen ist Estermann insofern weit entfernt, als er den malerischen Gestus wider den konzeptuellen Ansatz favorisiert. Während Weinberger stets an der Grenze oder im Überschneidungsbereich von Natur und Kultur agiert und Brachen, Lücken im städtischen Raum, Peripherien als Orte thematisiert, steht bei Estermanns handlichen Ideenskizzen die Formfindung im Vordergrund.
Dies lässt sich auch an der Verbindung der übermalten Fotoarbeiten mit Estermanns dreidimensionalen Modellen aus Sperrholz, Pappe und Wasserfarbe ablesen, die, vergleichbar den frühen Skulpturen von Erwin Wurm, das Plastische mit dem Malerischen zusammenschließen, wobei sich jedoch die Medien der Plastik und der Malerei keinesfalls bedingen, sondern vielmehr zu ergänzen scheinen. Die Modelle lassen im Unterschied zu den großen architektonischen Visionären wie Fuller, Kiesler und Friedman auch weniger den Willen zur Utopie und zum Zukunftskonzept erkennen als vielmehr die künstlerische Auseinandersetzung mit dem dreidimensionalen Objekt und dessen Struktur und Kolorit an sich. Die Modelle erlauben Assoziationen an utopische Architekturvorstellungen ebenso wie an gebaute Architekturen, ohne den Anspruch auf deren Realisierung zu erheben. Und doch schafft Estermann mit seinen Fischer-, Strand- und Poolhäusern ungewohnte funktionale Verbindungen. So offerieren die Fischerhäuser den buchstäblichen direkten Seezugang und die Möglichkeit, vom Balkon aus zu fischen. Oder die Pool- und Strandhäuser ermöglichen den direkten Sprung ins idyllische Nass. Hier trifft der Künstler humorvoll unsere heutige Konsum- und Luxusgesellschaft, die trotz der Krise weiterhin versucht, die Freuden des Freizeitgenusses so bequem wie nur möglich zu erlangen. Estermann hält unserer Gesellschaft augenzwinkernd einen Spiegel vor, während er das Widerspiel von Plastik und Malerei auszuloten sucht und sich darin in einer Gemeinschaft mit Künstlern der russischen Avantgarde bis hin zu Erwin Wurm weiß. Seine Modelle greifen auf die Ästhetik von Architekturen der 1960er und 1970er Jahre zurück, schaffen jedoch eine spannende Verbindung zu unserem das Leben bestimmenden Konsumwahnsinn der Jetztzeit. Insofern ist das Projekt von Estermann ein zeitgenössisches, welches zwar in der klassischen Avantgarde und der Architektur des 20. Jahrhunderts verankert ist, in dessen Rahmen der Künstler jedoch Begriffe wie Moderne und Avantgarde anhand deren anonymer architektonischer Überbleibsel analysiert und kritisch hinterfragt.

Dieter Buchhart, (November 2009)


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english version:


LORENZ ESTERMANN
The Expansion of the Painterly in the Mirror of Utopian Architecture


Utopian architectural models have fascinated art lovers since Claude-Nicolas Ledoux's vision of a spherical House for a Gardener or the fantasy landscapes of Giovanni Battista Piranesi. With their ideas in art, culture, science, and architecture, visionaries like Buckminster Fuller, Friedrich Kiesler, and Yona Friedman opened new perspectives, approaches, and possibilities for conceiving architectural living space in the twentieth century. Even if it was impossible to realize many of these plans for the most varied reasons - or indeed that was not the point - they nonetheless shaped the discourse of what was possible and apparently doable, and gave an outlook on new ways of life. These cross-disciplinary approaches were needed to offer a perspective that in the play between topos and utopia made possible new urban models and practices.
Utopia as a site of testing possibilities also remains the focus in Lorenz Estermann?s work series Instant City. In so doing, he derives his models from actually existing architectures, which he interrogates for their meaning and functionality in the course of his research. His objects of analysis include poster walls, bus shelters, terminal boxes, various platforms, summer homes, sheds, bus stations, and tunnels. His explorations often lead to distant sites on the periphery, passages and voids like non-spaces where the emptiness stands apart from its function. Estermann arrests these architectures in photographs, which he then draws and paints over, and then develops into three-dimensional models. The collage-like style of his paper works is reminiscent of Franz West's collages. But in contrast to West, Estermann, who has been recognized in the Austrian art world since the 1990s for his abstract compositions, remains clearly present in all these interventions. For example, he covers areas in a background landscape with a surface of paint, adding apparently random elements, words like "packet," "perkal," "please," or "reef" - often then the titles of the works - whose typography oscillates between self-painted signs and graffiti. The paper works leave the impression of spontaneous sketches that the artist develops from his analysis of architectural structures. The gesture seems spontaneous, shaped by the impetus of a painter rooted in gesture, whose drive towards art is defined by shaping and recreating forms. Esterman is thus quite far from the conceptual rigor of Lois Weinberg's Einfriedungen, Wegwarten, and Busstationen, for he favors the painterly gesture over the conceptual approach.
While Weinberger always acts on the limits or the intersection between nature and culture and explores wasteland gaps in urban space, peripheries as sites, in Estermann's handy sketches the creation of form stands at the foreground.
This is not only visible in the link between the painted photographic works to his three dimensional models of plywood, cardboard, and watercolors, which, like the early sculptures of Erwin Wurm, combine the sculptural with the painterly, whereas the two media by no means define one another, but rather seem to complement one another. In contrast to great architectural visionaries like Fuller, Kiesler, and Friedman, the models do not so much provide a glimpse of the will to utopia and a concept of the future, but rather the artistic engagement with the three-dimensional object and its structure and color. The models allow for associations with utopian notions of architecture as well as actually built architecture, without making a claim about its realization. And yet, Estermann creates unusual functional links with his fisher, beach and pool houses. In so doing, the fisher houses literally offer direct access to the water and the possibility to fish from the balcony. Or the pool or beach houses allow a direct leap into the idyllic water. Here, the artist humorously targets our consumption and luxury society, which is constantly trying to make the pleasures of leisure as comfortable as possible despite the crisis. Estermann ironically holds up a mirror to our society, while trying to explore the play of sculpture and painting, and in so doing is aware of something he shares with artists from the Russian avant-garde to Erwin Wurm. His models pick up the aesthetic of architectures of the 1960s and 1970s, but create an exciting link to the obsessive consumerism that now defines our lives. To that extent, Estermann's project is a contemporary one anchored in the classical avant-garde and the architecture of the twentieth century, but in the framework of which the artist analyzes and critically questions terms like modernism and avant-garde by examining their anonymous architectural remnants.

Dieter Buchhart