Lorenz Estermann


Florian Steininger >Raumstücke< 2005 Katalogtext: (german)




















Lorenz Estermanns Raumstücke

In Lorenz Estermanns aktuellem künstlerischen Konzept bildet die >räumliche Kontextualisierung< eine zentrale Position. Während dieses Kriterium in seinen Bildern - meist in zeichnerischen Arbeiten auf Papier - als imaginäre Erfahrung von gesehener Welt zu bestimmen ist, sind seine neuen Werke nun architektonisch anmutende Objekte, die sowohl den Real- und somit Alltagsraum intervenieren, als auch als Projektionsmotive für autonome Raumsituationen fungieren können.


Raumerfahrung auf der Matrix des Bildes

Bereits in seinen grafischen Werken aus den späten 1990er Jahren nimmt die räumliche Dimension einen wesentlichen Aspekt ein, wenn etwa der Künstler >Erinnerungsfetzen< der Naturerfahrung, wie etwa die von Bergen, Wäldern und Seen mit dem Stift und Pinsel auf dem Bildträger festhält. Dabei entstehen sensible lyrische >Landschaftsbilder<.
Elementar dabei ist das gedankliche Moment des Künstlers, das sich motivisch-räumlich manifestiert, ohne mit der konkreten Abbildung der Wirklichkeit verbunden zu sein. Der Künstler umgeht das klassische >Fenster Albertis<, das eine direkte perspektivische Übersetzung eines bestimmten Ausblicks in den Realraum vortäuscht. Es sind bei Estermann keine dokumentarisch festgehaltene Situationen der Wirklichkeit. Das Bild fungiert in dieser Phase seiner Arbeit nicht als rein optische Matrix im Sinne des realen Blicks auf die Welt, sondern als ein Konglomerat, als eine heterogene Summe von unterschiedlichen gelebten oder imaginierten Raumsituationen. Das noch unbehandelte Blatt Papier - auf dem Tisch ausgebreitet - ist nun der Ort, das Feld, auf dem Estermann seine Erinnerungen sozusagen zeichnerisch >ausschüttet<, gleich einer Collage auf dem Papier verteilt.

Diese >gedanklich-räumliche Definition< tritt in unterschiedlichen Facetten auf. Bei seinen Arbeiten auf Papier aus den letzten fünf Jahren etwa sind es Montagen aus einzelnen Abbildern, gespeist durch fotografische Abzüge aus seinem Archiv, die in einen kompositorischen Kontext gestellt und durch malerisch und zeichnerische Mittel wie Spachtelzüge oder prozessuale Striche des Stifts in ein erweitertes Spannungsfeld gestellt werden. Das motivische und inhaltliche Spektrum dieser Arbeiten reicht von landschaftlichen Panoramen bis zu architektonischen Motiven und Innenraumdarstellungen. Bei einer Vielzahl dieser Werke bestimmt der zitierte Raum - ob landschaftlich oder architektonisch ausgerichtet - das Bildgeschehen. Die persönliche Handschrift ist hier radikal zurückgedrängt. Estermann beginnt ab 2003 nun auch Architekturen en miniature zu konstruieren - streng konstruktivistische Hochstände, Stadiontribünen, Gerüste, aber ohne alltagsbezogene Funktion. Sie dienen hier noch lediglich als dreidimensionale Motivvorlagen für seine Zeichnungen. Die eigene >Geste> hat nun insofern wieder Bedeutung erlangt: nicht wie in den Arbeiten zuvor als seismografisch gesteuerte auktoriale Spur des schöpfenden Individuums, sondern in Form des tektonisch-Gebauten: also selbst Geschaffenes und nicht Zitiertes, Adabtiertes, fotografisch Festgehaltenes. Kunstgeschichtlich formal betrachtet, erinnert Estermanns konstruktive >Handschrift< auch ein wenig an die Haltung der russischen Konstruktivisten wie Naum Gabo, Alexander Rodtschenko oder Tatlin mit ihren Raum-Objekten und architektonischen Gebilden. Estermanns >Architekturen< werden in das Bild per Foto-Monotypie eingebaut und verbinden sich mit den zusätzlichen Bildmotiven und -zonen zu komplexen vielschichtigen Bildgefügen ohne eindeutiger Lesart und narrativer Aussage. Motiv, Abbild, monochrome Malerei, grafische Spur, Hell-Dunkel vermischen sich zu subtil aufgeladenen Kunstwerken.


Raumstücke

Aus dieser >Collage< extrahiert Estermann in Folge architektonische Motive und setzt sie in realiter als >Modelle< um: gezimmerte architektonische >Raumstücke< aus Sperrholz und Pappe entstehen. Wie auch auf dem Papier die unterschiedlichen Räume und architektonischen Elemente eine heterogene Struktur im Bild erzeugt haben, ja narrativ und in der Erinnerung wurzeln, so sind auch die neuen dreidimensionalen Objekte zu bewerten. Es sind sensitive, verspielte ja manchmal groteske Montagen und Konstrukte von möglichen und von erfahrenen Raumsituationen: ein Hochstand, eine Werbetafel, ein Kiosk, eine Rampe, die zum Wasser führt, eine Einbauküche, Separées, Billigläden, Telephonzellen für indische Ferngespräche, usw. Mit Hingabe für das Detail vertieft sich der Künstler in seine neuen Gebilde. Es sind Zwitterwesen, Prototypen der unfunktionellen aber geistreichen und auf Erkenntnis beruhenden Weise zu erfinden und zu entwickeln. Manchmal tauchen applizierte Fotos auf den Objekten auf, die die vielleicht allzu architektonisch minimalistische Homogenität durch narrative Momente aufbricht.

Estermann hat in seiner ersten Phase der Raumstücke (2003-05) die gebauten Werke nicht primär als Objekte, die im Realraum verankert sind, begriffen. In dieser Phase, führt der Künstler also das reale Objekt noch zurück in den imaginierten Raum, der vom klassischen Bilderrahmen abgegrenzt wird, indem er das dreidimensionale Werk fotografiert und den Abzug verwendet. Das Gebilde wird von einem weißen neutralen Bildraum eingefangen, der zum Realraum in klarer Distanz steht. Dieser weiße bildimmanente Raum ist artifiziell, absolut und steht in keinem Verhältnis zum faktischen Raum. Ebenso verhält es sich mit der Wirkung des Motivs, losgelöst von den üblichen Maßstabsverhältnissen und dem Vergleichen zu den anderen Dingen der Welt.

In einigen Fällen vergrößert Estermann den Maßstab seiner in ihrem Inhalt verschlüsselten Raumstücke und verwendet diese als Modelle für raumgreifende Skulpturen und installiert sie in öffentlichen Zonen. Ein Kiosk-ähnliches Objekt, zum Beispiel, steht inmitten einer Waldlichtung, seine unerwartete aus dem alltäglichen Kontext entrissene Lokalisierung löst beim Betrachter Erstaunen und Befremdung aus, ähnlich bei einem illegal abgeladenen Kühlschrank, der an der Wegkreuzung laut Augenzeugen liegen soll. Das angebrachte Schild enthält keine konkrete Information, wie wir es uns sonst gewohnt sind: etwa >Coca-Cola-Logo oder Döner-Kebab-Zeichen<: Eine eigentümliche Atmosphäre entfaltet sich im Wald. Vor kurzem hat Lorenz Estermann eines seiner frühesten Modelle - eine Kabinenwand - vergrößert und im Areal des Südbahnhofs aufgestellt, ein viel bevölkerter Ort des Kommens und Gehens. Dabei handelt es sich um eine absurd anmutende Konstruktion zwischen Erotikkabine, Telephonzelle und Kantine - ein delikater Schauplatz des Privaten und Intimen, im Kontext des öffentlichen Raums. Diese verspielte groteske Dimension, diese Provokation von Verwunderung und Erstaunen, die Estermanns Objekte im Wald oder auf dem Bahnhof implizieren und auslösen, lässt vielleicht ein wenig an das Wesen der Performances und Objekte der Künstlergruppe Gelatin erinnern, wenn diese zum Beispiel einen aus rosa Wolle gestrickten Hasen mit 65 Metern auf eine Hügelkuppe im Piemont legen und ihn der Natur preisgeben, oder eine wilde Achterbahn in die Wohnung einbauen. Estermann konzentriert seine künstlerische Arbeit jedoch mehr auf das einzelne Objekt, seine Form, die auch durch die handwerkliche Handschrift entsteht, denn auf Aktion mit sozialkritischer Ausrichtung.
Wie auch seine Bilder überzeugen die neuen Arbeiten durch ihre sensitiv-poetische Ausstrahlung.

Florian Steininger