Lorenz Estermann


Peter Forster, Kunstverein Oldenburg, 2007 Katalogtext (german/english)




















Behauste Skulptur

Der gemeine Einsiedlerkrebs ist eine merkwürdige Laune der Natur. Normalerweise haben Krebse einen festen Panzer, der sie vor ihren Feinden schützt. Anders der Einsiedlerkrebs. Sein ungeschützter, weicher Hinterleib zwingt ihn, eine stabile und tragbare Behausung zu suchen. Diese findet er in leeren Schneckengehäusen, in die er rückwärts hinein schlüpft. Sein Hinterende ist so geformt, dass es bestens in die Windungen der Gehäuse passt und somit gut verpackt ist.
Lorenz Estermanns Skulptur ist so ein leeres Gehäuse in das sich die filmische Porträtarbeit das Fenster neben meinem des Künstlers Thomas Henke hinein gewagt und dort unterschlupft gefunden hat.
Das Fundament für das skulpturale Gehäuse Estermanns war bereits vorhanden: Der Bildhauer Estermann arbeitet bereits seit längerem mit solchen Raumhüllen, das umfangreiche Filmprojekt Henkes mit seinen vorgenommen Porträt-/ Hausprojektionen war ebenfalls bereits aufgeführt. Voraussetzung für eine gelungene Zusammenführung von Skulptur und Film war die autonome Stellung des eigenen Werkes. So konnte verhindert werden, dass einer der beiden Partner Auftraggeber des anderen wurde und dadurch Abstriche in der eigenen Präsentation machen musste.
Während eines gemeinsamen Stipendiumsaufenthaltes im Egon-Schiele-Zentrum in Cesky Krumlov 2002 lernten sich Estermann und Henke kennen und schätzen. Aus der genauen Kenntnis der gegenseitigen Arbeitsweise resultiert die in Oldenburg erstmals gezeigte Symbiose aus Objekt und Projektion.
Für diese Präsentation bearbeitete Thomas Henke sein Gesamtmaterial - seine filmischen Porträts sowie die zugehörigen (filmischen) Dokumentationen, in denen aus fünf privaten Häusern via Projektion ihre Bewohner mit ihrer erzählten Biographie in den öffentlichen Raum traten - zu einer Endfassung: Collageartig überlagern sich im rhythmischen Wechsel, sensibel dargeboten, Erzählfragmente einzelner Personen mit Aufnahmen ihrer Projektionen aus den eigenen Häusern. Gesichter tauchen auf, sprechen und verschwinden wieder, ein Haus taucht auf - mit sprechendem Porträt - und verschmilzt mit der einsetzenden Nacht zu einem fast romantisch anmutenden Bild einer sich im Fluss befindlichen Existenz. Henke hat den Zusammenschnitt des Films wie ein Musikstück komponiert, in dem Sätze aus den Porträts ineinander verwoben nach einer bestimmten inneren Struktur sich zusammenfinden. Man verliert im Film den Überblick: Ist man außerhalb des Hauses oder in seinem Inneren? Damit spielt diese Komposition - Grenzen und Ebenen miteinander zu verschmelzen. Es gelingt ihr die wechselnden Sphären einheitlich, ja als eine Einheit darzustellen. Dabei haftet dem Film nichts Konstruiertes an, sondern etwas Virtuoses. Die Verweigerung, einen konzeptuellen Prozess zu zeigen, ihm ein virtuoses leichtes und spielerisches Gefühl anhaften zu lassen, verlangt nach einer ebensolchen künstlerischen Fassung: Entsprechend der unterschiedlichen Biographien der Porträtierten haben wir es mit unterschiedlichen ?Haustypen? zu tun. Spielte in der Installation vor Ort vor allem der Aspekt der Durchdringung und Verwandlung der privaten Sphäre die zentrale Rolle, wandelt sich im neuen Film die Rolle des Hauses selbst: Das Haus wird zum Stellvertreter der Dargestellten. Das Haus wird nach der Haut und der Kleidung zur dritten, ihn charakterisierenden Hülle des Menschen. So kommt es zur unterschwelligen, unaufdringlichen, aber ständig präsenten Gleichsetzung der Personen mit ihren Häusern.
Henkes 20minütiger - in einer Endlosschleife vorgetragener - Film verlangt nun nach einer entsprechenden Präsentation, einer Präsentation in einem autonomen Körper, der eine Verschmelzung mit der Projektion eingeht; mehr noch, nach einem Raumkörper aus dessen Innerem heraus die Projektion in den Außenraum vollzogen wird. Die Projektionsfläche in diesem Gehäuse funktioniert wie ein Display: binäre Codes innerer (menschlicher) Strukturen werden mit Hilfe einer Art ?Porträtsoftware? auf dieses Display übertragen - um mit ihm eine Einheit zu bilden.
An diesem Punkt tritt Lorenz Estermann in Erscheinung: seit 2003 konstruiert er diverse Architekturen wie z.B. Hochstände, Tribünen, Gerüste, Werbetafeln, Rampen, Telefonzellen und Häuser, denen allen ein Aspekt gemein ist: Sie verweigern sich einer eindeutigen Zuordnung. Sie sind Raumhüllen, ja auch Raumkörper. Sie unterliegen aber keinem Raumnutzungsprogramm. Sie sind der Alptraum eines Architekten - und der Traum eines Konstruktivisten. Am besten eines russischen Konstruktivisten, dessen Ziel es immer war, konstruierten Raum so mit Farbe zu bedecken, das er zur Leinwand einer transzendenten und irgendwie auch besseren Welt wird.
Nur dort wo die russischen Konstruktivisten mit viel Aufwand und Lärm sich in den öffentlichen Revolutionsraum bewegten sind Estermanns Bauten angenehm unaufdringlich. Vielmehr spürt man hier den durch Ilya Kabakov filtrierten russischen Konstruktivisten heraus: Denjenigen, der durch die räumlichen Installationen eine Geschichte erzählen will, immer eine wahre, die immer auch falsch sein kann. So selbstverständlich Kabakovs Baustellen, rote Wagons, Hospitäler und kommunalen Wohnungen sich ihrer Umgebung (und sei es ein Museum!) anpassen und anmuten - als wären sie schon immer dort gewesen, so nebensächlich wirkt Estermanns Installation im Oldenburger öffentlichen Raum. Als hätte jemand unauffällig seinen Fernseher dort abgestellt, der noch vor sich hinläuft. Die Konstruktion Estermanns, die, vorschnell beurteilt, etwas von einem Kiosk hat, steht einfach so auf diesem Platz. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Skulptur, die Estermann aus Hartfaserplatten und Dachlatten vor Ort an einem Tag errichtete. Die Skulptur selbst wurde von ihm auf ihren Außenseiten malerisch mit einem elfenbeinfarbigen Lack gestaltet, in den er mit einem Bleistift unterschiedliche Strukturierungen hinein gearbeitet hat. In der filigranen künstlerischen Behandlung der Skulpturaußenseiten zeigt sich Estermanns Herkunft aus der Malerei. Nur ist diese Malerei nicht mehr Malerei um der Malerei willen, sondern verleiht vielmehr dem Rohbau ihren letzen Schliff zur fertigen Installationshülle.
Bereits vor der Präsentation in Oldenburg installierte Estermann Skulpturen im öffentlichen Raum. Ein kioskähnliches Objekt stellte er beispielsweise unvermittelt in einer menschenleeren Waldlichtung ab, während eine intim wirkende Raumkabine sich auf einem menschendurchdrungenen Bahnhofsareal platziert wurde. Sensibel, poetisch vorgetragene, Irritationen unseres täglichen Ablaufes. Sie beschützen den Betrachter davor, sich vollständig im Fluss seiner eigenen Welt zu verlieren.
In einem solchen Schutzraum findet Henkes intimer, fast fragil anmutender Film Unterschlupf. Da finden zwei gänzlich unterschiedliche Geschwister, Skulptur und Film, zusammen und beschließen aus derselben Haltung heraus, ein vorübergehendes ideales Verhältnis miteinander einzugehen. Vorübergehend, weil der Installation etwas Nomadenhaftes anhaftet. Sie ist transportabel und könnte, wenn man wollte, wie ein Zelt an unterschiedlichen Orten neu aufgestellt werden. Die Skulptur hat Stützen, die zeigen, dass sie nicht fest verankert ist.
Es ist wie mit dem Einsiedlerkrebs in seinem Gehäuse bzw. den Menschen, die in ihren Häusern leben: Wenn sie sich verändern, suchen sie sich ein neues Gehäuse. In Oldenburg dringt durch die Öffnung des Hauses, dem Fenster, die Person nach außen. Das Fenster steht für einen Ein- und Ausblick - und im übertragenen Sinne für das Auge des Hauses. Beim Auge fällt durch die Linse das Licht nach innen. Die Projektionsfläche wird zum Fenster zwischen Außen und Innen auf dem sich die Person, die jetzt ?transportabel? gemacht wird, mit ihrem Innenleben abbildet (ablichtet).Wenn man so möchte, eine übersetzte skulpturale Augenform. In dem Fall geht jetzt nicht mehr die Projektion von außen nach innen, sondern dieses Innere wird in einen Außenraum hintransportiert und behauptet sich so einerseits als Aussage der Person, aber auch als skulpturale Form. Die Stützen funktionieren auch als Sockel, die Malereien mildern die Kiosk- bzw. Hausassoziationen und betonen die plastische Form. Die Skulptur kann umgangen und umkreist werden - vorn erscheint das bewegte Bild, an den Seiten schließen sich weitere Bilder an.
Persönlichkeit richtet sich ein in Häusern: sie sind Räume des Schutzes, des Rückzuges und der Geborgenheit - eine Ver-Ortung unserer Biographie.
Estermann transportiert nicht das ganze Haus in den öffentlichen Raum, sondern nur das Fenster und mit dem Fenster die Person. Eigentlich ist die Skulptur auch eine Art Fernseher - aber in dem läuft ja eigentlich nur das öffentliche Programm. Hier ist es ein Fernseher, der in den öffentlichen Raum gelangt ist, aber das Private zeigt. Eine Art ?Privatfernsehen? ohne Fernsehstation.
Die Arbeit für Oldenburg stellt den Beginn der Zusammenarbeit von Lorenz Estermann und Thomas Henke dar. Weitere Projekte sind im konkreten Planungs- und Produktionsstadium und werden ihre jeweils eigene - und gemeinsame - Position weiter verfestigen: Mit ihrem künstlerisches Großprojekt ?Liquid Identities? werden Henke und Estermann ein weitreichendes innovatives Areal - nicht nur in der künstlerischen Verbindung von Film und Skulptur - abstecken.


Dr. Peter H. Forster




English Version:



The inhabited sculpture

The common hermit crab is a curious freak of nature. Normally crabs have a solid shell protecting them from their enemies. The hermit crab is different. Its unprotected, soft back part forces it to look for a stable and portable dwelling. Empty snail shells are suitable for its needs. When it slips backwards into the shell, it fits perfectly into the shell windings and is securely protected.

Lorenz Estermann?s sculpture is such an empty shell, which the artist Thomas Henke?s film portrait Das Fenster neben meinem (?The Window Next to Mine?) dared to enter, finding shelter there.

The basis for Estermann?s sculptural dwelling was already there: as a sculptor, Estermann has been working with such spaces for quite some time. Henke?s extensive film project with portrait and housing projections had already been completed. The independent status of each work was the precondition for a successful combination of sculpture and film; that was the only way to prevent one of the partners from commissioning the other?s work, thereby limiting his artistic freedom.

Estermann and Henke met at the Egon Schiele art centre in Cesky Krumlov (2002), where they both had scholarships, and came to hold each other in high regard. The intimate knowledge of each other?s working methods resulted in the symbiosis of object and projection first shown in the city of Oldenburg.

Thomas Henke took his complete material ? his film portraits as well as the corresponding documentation (also on film), in which inhabitants of five private homes enter the public sphere with their narrated biographies via projections ? and constructed a final version out of it for this presentation: he sensitively presents each person?s narrative fragments overlapping rhythmically in a collage with footage >from the event, when Henke projected their portraits onto the windows of their own homes. Faces appear, talk and disappear, a house emerges ? with a talking portrait ? and with the falling night blends into a seemingly romantic picture of an existence in constant motion. Henke composed the film montage like a piece of music, in which sentences from the portraits are interwoven according to a certain inner structure. One loses the general sense while watching: Is it outside the house or inside? That is what the composition plays with ? the blending of layers and borders. It successfully shows the changing spheres uniformly: it shows them as one unit. Yet the movie does not seem constructed, it seems virtuosic. The refusal to show a conceptual process while giving it an airy, playful feeling instead, demands such an artistic conception: corresponding to the different biographies of the portrayed people, we are confronted with different types of homes. Whereas the aspect of penetration and metamorphosis of the private sphere played the central role in the installations on site, the role of the house itself changes in the new film: the house becomes the representative of the portrayed people. After skin and clothes, the house becomes the third defining shell of a person. In that way a subversive, unobtrusive but continually present equation of a person with his house is achieved.

Henke?s 20 minute film - shown in a non-stop loop ? demands an adequate presentation, a presentation in an autonomous space, which will allow for a fusion with the projection. And it demands even more: a vessel where it can be projected from the centre onto the outside surface. This shell?s projection screen works like a display: binary codes of internal (human) structures are transmitted with a kind of ?portrait software? on this display and form a union with it.

This is where Lorenz Estermann enters the picture. Since 2003 he has constructed a range of architectural structures like high seats, bleachers, scaffoldings, billboards, ramps, telephone booths, and houses that all have one aspect in common: they defy a clear-cut classification. They are extensions of space and also bodies in space, but are not subject to any defined use of that space. They are the architect?s nightmare ? and the constructivist?s dream -- most of all a Russian constructivist whose aim it has always been to cover a constructed space with colour in such a way that the canvas would turn into a transcendent and somehow better world.

Compared to the Russian constructivists who pushed into the public revolutionary space with a lot of noise, Estermann?s constructions are pleasantly unobtrusive. The Russian constructivist who was inspired by Ilya Kabakov is rather palpable here: one who wants to tell a story with space installations, always a true story, which can always be wrong at the same time. As naturally as Kabakov?s building sites, red wagons, hospitals, and housing projects fit into their environment (even if it is a museum) and seem as if they had always been there, Estermann?s installation in Oldenburg?s public space appears insignificant. As if someone had inconspicuously left his TV-set while it was still running. At first glance Estermann?s construction looks a bit like a kiosk, simply standing there. Actually, it is a sculpture which Estermann constructed from hardboards and laths on-site in one day. He designed the outside of the sculpture with an ivory varnish, adding structures later in pencil. The delicate artistic treatment of the outside points to Estermann?s roots in painting. Only this is no painting for painting?s sake, it is the finishing touch that turns the mere construction into a finished shell for the installation.

Before the presentation in Oldenburg, Estermann had already installed sculptures in public space. He placed a kiosk-like object on a deserted clearing in the woods for example, while putting up a cabin with an intimate feel to it in a crowded train station area. These slight disturbances of our daily routines protect the viewers from getting lost in the flow of their own worlds.

Henke?s seemingly fragile film finds shelter in such a protected space. Two very different siblings, sculpture and film, come together and decide to enter a temporary ideal relationship based on an attitude which they both share. Temporary, because the installation has a nomadic element to it. It is portable and could be put up in different places, like a tent. The fact that the sculpture has legs shows that it is not firmly installed.

It?s like the hermit crab in its shell or people in their homes: when they change they look for a new dwelling. In Oldenburg the person permeates to the outside through the window, the house?s opening. The window symbolizes an insight and an outlook, and, in a metaphorical sense, it is the eye of the house. In an eye the light goes to the inside through the lens. The projection screen turns into a window separating the outside from the inside, and displays (illuminates) the person who has been made portable, together with his or her inner life. It is a transformed sculptural form of an eye, one could say. In this case the projection?s direction is not from the outside to the inside, but the inner life is transported to the outside and manifests itself not only as the person?s statement, but also as a sculptural form. The legs also work as a pedestal, the paintings make it look less like a kiosk or house, and stress its sculptural form. It is possible to go around the sculpture, to circle around the sculpture ? there?s the moving picture at the front and more pictures on both sides.

Personality makes itself at home in houses: they offer protection, a place to withdraw to and feel safe in ? they are a placement of our biography.

Estermann does not present the whole house in public space, but only the window, and with the window, the person. Actually the sculpture is a kind of TV-set. But on TV there are only public channels! Here we have a TV which happens to be in public yet shows the private. A kind of ?private TV? without a TV-station.

This work marks the beginning of Lorenz Estermann and Thomas Henke?s collaboration. Further projects are either being planned, or are in the production stage, and will strengthen each artist?s individual position as well as their common position. Henke and Estermann will explore a far-ranging, innovative area which will not be limited to the fusion of film and sculpture.

Dr. Peter H. Forster